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Ein Lob der Zufälle

Jubiläum: Vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer – ein Ereignis, das wie ein Wunder wirkt

Mit den Ereignissen vom 9. November sind Staunen und Dankbarkeit verbunden, aber auch Ernüchterungen.

Der Tag im Jahr 1989, an dem sich Ängste lösten und die Hoffnung auf einen neuen Anfang Oberhand gewann, war der 9. Oktober. Am frühen Morgen rief eine befreundete Krankenschwester aus Leipzig an. Wir sollten unsere Tochter warnen, die Blutkonserven seien vorbereitet. Kurz vor Mitternacht dann der Anruf unserer Tochter: »Sie haben nicht geschossen.« Ich glaube, wir haben geweint.

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Jubelnde Menschen sitzen mit Wunderkerzen im November 1989 auf der Berliner Mauer. Foto: picture alliance/dpa

Jubelnde Menschen sitzen mit Wunderkerzen im November 1989 auf der Berliner Mauer. Foto: picture alliance/dpa

Genau einen Monat später, am Abend des 9. November, fuhr ich mit Reinhard Höppner, dem damaligen Präses der Synode der Kirchenprovinz, zu unserer Partnerkirche nach Prag. In unserem Weltempfänger hörten wir mit schlechtem Empfang: Aufregung in Berlin an der Bornholmer Straße! Aber die Dinge konnten wir uns nicht zusammenreimen. Erst unsere Gastgeber klärten uns auf: »Die Mauer ist gefallen.« Wir wussten instinktiv: Jetzt geht es um die deutsche Einheit! Reinhard Höppner und ich haben uns später eingestanden, dass wir bereits seit dem Frühjahr 1989 wussten, dass diese Möglichkeit auf der Tagesordnung stehen würde: Höppner saß in Karlovy Vary an einem Tisch mit Günther Jahn, dem Ersten Sekretär der SED im Bezirk Potsdam. Nach einem Mittagessen bemerkte Jahn: Die DDR ist Pleite, wir machen noch einen Versuch, und wenn der misslingt, kommt eben die deutsche Einheit. Dazu eine abweisende Handbewegung, als wolle er die DDR gleich wegwerfen.

Überhaupt war das Selbstvertrauen der Führung der DDR brüchig geworden. Bei meinem ersten Gespräch mit dem Ersten Sekretär der SED in Magdeburg, Werner Eberlein, im Juni 1989 wurden wir mit einem kleinen Ausflugsboot auf der Elbe hin- und hergefahren. Eberlein sagte auf meine Vorhaltungen zur Politik der SED zwei Mal, dass man nichts ändern werde. Die Begründung: »Wir haben Angst.« Damit das keiner hört, mussten wir so merkwürdig Schiffchen fahren.

Höppner und ich hatten diese Gespräche fast vergessen. Und das war ein großes Glück! Denn hätte einer der Akteure sich die deutsche Einheit auf seine Fahnen geschrieben, dann hätte das mit Sicherheit unabsehbare Folgen gehabt. Es gibt viele Zufälle auf dem Weg zum 9. November, als junge Leute auf der Mauer tanzten: Günter Schabowskis Stammeln, die richtigen Politiker zur richtigen Zeit am richtigen Ort, das Nichteingreifen des Militärs und mehr. Gott sei Dank! Die historische Wissenschaft aber kann Zufälle nicht leiden. Sie will und muss die Ursachen ergründen und bewerten. So wird Helmut Kohl zum »Kanzler der Einheit« hochgejubelt, werden die ökonomischen Zwänge zu den eigentlichen Ursachen für das Ende der DDR ernannt und das Aufstehen der Menschen wird kleingeredet.

Auf die am 9. November gewonnene begeisterte Freude folgte freilich bald eine herbe Ernüchterung: Die Freiheit zeigte sich als eine anstrengende Aufgabe. Manches blieb auf der Strecke, in der Kirche unter anderem die Predigerschulen. Dabei braucht eine missionarisch ausgerichtete Kirche Quereinsteiger, die aus anderen Berufen kommen. Die DDR hatte ungewollt durch ihre Volksbildungspolitik für eine bunte Mischung der Pfarrerschaft gesorgt, weil viele ihren ursprünglichen Berufswunsch nicht erfüllen konnten.

Durch die fortschreitende organisatorische Rationalisierung mit ihrer Zentralisierung ist auch die persönliche Begegnung und Aussprache in der Kirche auf der Strecke geblieben. In Landeskirchen nimmt die Klage über wachsende Bürokratisierung zu. Dennoch: Für mich klingt die Hoffnung des 9. November immer noch nach in der stolzen Freude unserer Enkelkinder, wenn sie in ihrem Studium aus den verschiedensten Weltecken grüßen. Der Fall der Mauer wurde durch die Globalisierung noch erweitert. Unsere Enkel werden all dies steuern müssen. Viel Glück und glückliche Zufälle möchte ich ihnen dabei wünschen!

Christoph Demke

Der Autor war von 1983 bis 1997 Bischof der Kirchenprovinz Sachsen.


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